Natur und Geist - über die Werke von Verena Freyschmidt

von Stefan à Wengen

 

Sowohl im Griechischen (physis) als auch im Lateinischen (natura) bedeutet Natur das, was jedem Seienden von seinem Entstehen her wesentlich ist. Seinem vitalen Bestehen nach ist der Mensch also selbst ein Stück Natur, die in ihrer Gesamtheit aller unmittelbareren Wirklichkeit, aller Dinge und Geschehnisse in ihrem ganzheitlichen Zusammenhang formal das Sein schlechthin verkörpert.

Polar entgegengesetzt, und zugleich aber auch polar miteinander verbunden, sind Natur und Geist. Der heutig gebrauchte philosophische Begriff des Geistes, in jener Polarität zur Natur, bildete sich ehedem im Zeitalter der Romantik und des Idealismus. Hegel hatte Natur schon als einen verhüllten und ohnmächtigen Geist angedeutet, während hingegen Kant Natur als Dasein und Inbegriff aller Dinge bezeichnete, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch solche der Erfahrung sein können.

Nun, Natur ist also das, was uns bedingt, während der Geist die Bedingungen, die uns zueinander in Beziehung in Form der Ausgestaltung von Kunst und Kultur, Zivilisation, Ethos und Moral setzt, erforderlich macht. Kant schreibt bezüglich zur Kunst anschaulich: „An einem Produkte der schönen Kunst muss man sich bewusst werden, dass es Kunst sei und nicht Natur, aber doch muss die Zweckmäßigkeit in der Form derselben von allem Zwange willkürlicher Regeln so frei scheinen, als ob es ein Produkt der bloßen Natur sei.“*

Verena Freyschmidts Werke sind von diesen Bedingungen geprägt, wobei sich ihre Papierschnitte und verschiedenste Materialdrucke weniger auf Naturromantik, auf unreflektiertes Naturerleben und ihrer Abbildungsabsicht beziehen, sondern auf deren darin gleichsam innewohnenden Ordnungen. Diese Strukturen sind die Basis ihrer forschenden Arbeitsweise, die hinwiederum Begriffe wie Sehnsucht, das Melancholische und Erinnerung nicht ausschließen.

Die Erfahrung der Welt und deren Natur und der Natur ihres Wesentlichen, erarbeitet oder erforscht sich Freyschmidt durch ausgedehnte Reisen in ferne Kulturen wie auch durch Wanderungen in der der Künstlerin nahe umgebenden Natur. Vordringlich ist dabei jedoch, dass Freyschmidt nicht die Natur als solche abbildet, sondern sich das Essenzielle aus dieser Natur und dem Naturhaften aneignet. Dabei ermittelt sie auch die innere Natur des Menschen, ihre eigene Natur, die ihr gleichsam ihr Geist lotst, denn ihre Vorgehensweise im Atelier ist zwar vom Außenraum wieder abgekoppelt, so doch aber nicht weniger natürlich.

Zu Beginn nämlich verfährt Freyschmidt ähnlich zur écriture automatique indem sie zunächst autarke und in sich selbstbestimmte Strukturen wachsen lässt, die sie dann anschließend zusätzlich bearbeitet und verdichtet. Sie setzt also zunächst etwas Natürliches, etwas Unbewusstes und etwas ihr gleichsam Fremdes, ihr Unbekanntes auf Papier oder andere Untergründe, das sie dann in einer späteren Phase weiter bearbeitet, verdichtet und weiter komprimiert.

Das Prozesshafte in Freyschmidts Werken ist somit ein wesentlicher Bestandteil der Verbundenheit zwischen Geist und Natur. Ihre zuvor durch Materialdrucke, Farbverläufe und Schlieren, Farb- und Klecksspuren erschaffenen Formgebilde, kristallisieren sich in diesem Prozess des Zufalls zur Fährte ihrer künstlerischen Forschung heraus. Es ist, als würde die Künstlerin diese Farbsetzungen geradezu lesen lernen, ihr darin geborgenes Geheimnis zumindest teilweise lüften um dann auf sie zu reagieren, mit ihnen zu korrespondieren. Freyschmidt bestrebt diese, zuvor durch die Natur des Zufalls entstandenen Strukturen künstlerisch zu erwidern, indem sie in der Folge geistesgegenwärtig und konzentriert mit Pinsel, Farb- und Tuschestift eingreift und diese abstrakten Formen gleichsam verlängert, verbindet oder trennt, öffnet oder fließend ineinander verwebt, ihnen gewissermaßen eine Diktion verleiht. Auch das Skalpell findet allenthalben in diesem Prozess seine Entsprechung, indem es durch die Hand der Künstlerin alles Überflüssige vom Trägermaterial abtrennt, Öffnungen und Durchblicke schafft. Es ist ein Suchen und ein gleichzeitiges Erkunden nach dem was hinter den Dingen, hinter diesen Strukturen liegt.

Die abgeschlossenen Werke erscheinen nun wie Erinnerungen an eine Sprache der Natur, die mitunter zu uns zu sprechen vermag, deren Artikulation wir allerdings nicht immer gänzlich verstehen, so doch aber nicht minder intensiv erleben und empfinden können.

Verena Freyschmidt vollbringt sonach mit ihren Arbeiten etwas Außergewöhnliches; sie verbindet nicht nur in ihrer künstlerischen Praxis, sondern auch in ihrem Werk anschaulich und sinnlich die vermeintlichen Gegensätze Natur und Geist. Sie erschafft letztlich eine Kunst, die gleichzeitig Natur und Kunst ist. Immanuel Kant würde sie sicherlich mögen.

 

* Immanuel Kant; „Die drei Kritiken“; Stuttgart 1975; S. 302 -303